Fremde Federn

Murad Wilfried Hofmann

aus der FAZ vom Mittwoch / 15.12.1999 / Nr. 292 / Seite 16

Die Angst vor dem Islam

Obwohl es höchst unwahrscheinlich ist, dass der Islam auf absehbare Zeit zur dominierenden Religion Deutschlands werden könnte, ängstigt man sich in der Bevölkerung bereits vor dieser Möglichkeit. Dabei wird fälschlich unterstellt, dass die (nach dieser Annahme zur Mehrheit gewordenen) Muslime die grundgesetzlich geschützte aktive und passive Religionsfreiheit ihrer (zur Minderheit gewordenen) christlichen und atheistischen Mitbürger missachten würden. Man nimmt offenbar an, dass Muslime mit religiösen Minderheiten ebenso rigoros umspringen würden, wie dies bis zum Anbruch der Neuzeit auf christlicher Seite der Fall war.

Hatte die (so monoreligiös gewordene) christliche Welt nicht jede andere Religionsgemeinschaft physisch eliminiert, solange sie es vermochte - nicht nur in Andalusien? Doch die islamische Welt hatte sich von Anfang an gegenüber anderen Bekenntnissen, vor allem Juden und Christen, grundsätzlich duldsam verhalten und wardeswegen zu keinem Zeitpunkt monoreligiös geworden. So leben noch heute - nach 1200 Jahren Islamisierung - 14 Millionen Kopten in Ägypten; in Teilen von Kairo und Damaskus sieht man mehr Kirchen als Moscheen. So waren die Griechen nach fünfhundert Jahre dauernder osmanischer Herrschaft orthodoxe, Griechisch sprechende Christen geblieben. In Istanbul gibt es von alters her Dutzende von Synagogen, zumal viele Juden vor der erbarmungslosen Reconquista in das Osmanische Reich geflüchtet waren.

In allen muslimischen Ländern waren die genannten Minderheiten vom Wehrdienst befreit und hatten nicht nur das Recht auf freie Religionsausübung, sondern die Pflicht zur Selbstverwaltung, einschließlich der Rechtsprechung nach eigenem religiösen Recht. Diese beispielhafte Praxis, die nur unter dem Eindruck bitterster Erfahrungen - etwa mit Kreuzfahrern - Einbrüche erlitt, beruhte nicht nur auf alter arabischer Gewohnheit, wonach jeder Stammesangehörige Fremden Asyl gewähren konnte, sondern auf bindenden Vorschriften des koranischen Rechts (Scharia). Der Koran missbilligt nicht nur jeden Zwang in religiösen Angelegenheiten (Sure 2, Vers 256); im 48. Vers der fünften Sure enthält er ein großartiges, modern wirkendes Manifest des religiösen Pluralismus: ". . . Jedem von euch gaben Wir ein Gesetz und einen Weg. Wenn Allah gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. Doch Er will euch in dem prüfen, was Er euch gegeben hat. Wetteifert darum im Guten. Zu Allah ist euere Heimkehr allzumal, und Er wird euch dann darüber aufklären, worüber ihr uneins seid." Diese islamische Doktrin prinzipieller religiöser Toleranz ist die absolute Verneinung der ehemaligen christlichen Doktrin "cuius regio, eius religio" (Wessen Gebiet, dessen Religion).

Wer das islamische Recht der Schutzbefohlenen (dhimmi), genannt Siyar, und seine vorbildliche geschichtliche Praxis kennt, wird auch verstehen, dass es weder provokativ noch unbillig ist, ihnen entsprechend zu gewähren, was sie 1420 Jahre lang Christen gewährt hatten: unter anderem das Recht zum Bau von Moscheen (nebst Minarett), zum islamischen Schulunterricht, zum Tragen islamischer Kleidung, zum Schächten, zur Anwendung koranischen Familien- und Erbrechts untereinander und zur islamischen Beerdigung. Der Fall, dass Muslime - sozusagen als "islamische Schutzbefohlene" - massenhaft in der nichtmuslimischen Welt leben, war von der klassischen islamischen Jurisprudenz nicht vorgesehen. Es kann daher kaum ausbleiben, dass das zeitgenössische islamische Juristenrecht (fiqh) für muslimische Immigranten auf der Grundlage von Koran und Sunna ein Regelwerk entwickelt. Ich vermute, dass diese Normen zum Schutz religiöser Minoritäten in der Postmoderne auch heute noch liberaler sein werden als die entsprechenden Artikel in zeitgenössischen westlichen Menschenrechts-Konventionen.

Der Verfasser, Mitglied des Beirats im Zentralrat der Muslime in Deutschland

(ZMD), ist deutscher Botschafter a. D.

Land: Deutschland; Internationales

Dossier-Rubrik: Meinungen zum Islam

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@ Ekrem Yolcu